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Samstag, 16. Februar 2008
Der Preis des Lebens (3) - Zerbrechlichkeit
wanderstein, 00:57h
"Still I hear the scream of thousands:
Crucify, crucify!!!
Take it all
Our gold, our homes, our life,
But we didn't kill your Christ!!
Reach out for your holy grail
Enslave us and make us
Your god's sacrifice!!"
- Blind Guardian, The Script For My Requiem, on Imaginations from the other Side, 1995
Wenn ich ehrlich über mein Leben berichten sollte, so stünde ich vor einem unlösbaren Problem. Denn wie soll ich wissen, ob ich mich letztendlich nicht doch selbst verfälsche? Insofern ist Ehrlichkeit nur indirekt möglich, indem ich bekenne, ein Lügner zu sein. Wenn ich dieses aber bekenne, so das alte philosophische Problem, kann man mir dieses denn glauben? Kann ich mir glauben?
Ein Satz auf dem Papier ist noch kein Meisterstück. Aber eine Antwort zu finden auf eine nicht gestellte Frage – wie soll das angehen? Was ist Existenz, wenn das, was sie umrahmt, bereits vergangen ist und das, was sie im Inneren begrenzt, erst noch geschieht? Gut 2300 Jahre sind vergangen, seit der Philosoph* den Augenblick erfand – wie viele davon mögen bewusst gelebt worden sein, und nicht einfach nur flüchtig zerfallen in das, was war und sein hätte können; wenn zwischen den Grenzen sich nichts befindet denn ein schmaler Grat ohne Substanz? Die Frage, die wir uns stellen müssen, ist: Wer bestimmt, was geschah, nachdem es gewesen ist?
Wir beginnen von vorne, und zwar mit dem Zählen. Vor dem Philosophen und den Philosophen waren die Mystiker, die eben auch mit dem Zählen begannen. Und wie so oft in der Mystik beginnt alles im Nichts, das kein Nichts ist, der Null. Mathematisch lässt sich das beispielsweise so ausdrücken: [-1 + 1 = 0]. Gewiss, es ist nichts, aber da steht dennoch eine Formel, die dieses Nichts ausdrückt. Ähnlich stellen sich die Mystiker nahezu aller Zeiten den Ursprung der Welt vor. Wenn nun diese Formel sich aus welchem Grund auch immer auflöst**, erscheinen ihre Teile, und zwar zunächst eine Eins [-1 + 1 = 0 |+1]. Wir sehen, wenn wir die Formel durchrechnen, dass zwei Einsen erscheinen, nämlich [1=1]. Das heißt nach den Regeln der Mystiker, dass das Universum als eine undividierbare Einheit nur sehr kurz besteht, und sodann in zwei Teile auseinander fällt, nämlich der Zwei. Da wir ab der zwei irgendetwas messen können, ist der folgende Vorgang für die Mystiker weniger interessant als der Anfang, wo nach ihrem Glauben eine absolute Einheit hergestellt ist, die sie wieder zu erlangen versuchen. Soweit die eine Seite. Die andere Seite beginnt in etwa, schätzen wir, grob 30 000 Jahre seit Beginn des Mystizismus, wenn wir bei den Schamanen wandernder Menschensippen beginnen, die 33 000 Jahre vor Christus Rituale in Höhlen zelebrierten, oder Bilder an die Felswände malten.
Betrachten wir nun folgendes Zitat aus dem zehnten Buch der aristotelischen Physik: „Die kleinste Zahl, diesen Begriff allgemein genommen, ist die Zwei.“*** Das hat im Grunde zwei einfache Gründe, oder vielmehr: wir reduzieren es auf zwei einfache Gründe – zum einen braucht da, wo eins ist, nicht gezählt zu werden. Mit einem einzigen lässt sich kein logischer Gedanke formulieren. Damit eine Logik funktioniert, muss das Universum mindestens zwei enthalten. Zum anderen ist alles, was vor der Zwei kommt, keiner Beobachtung zugänglich. Auch Aristoteles setzt die Eins, den so genannten unbewegten Beweger als Ursprung der Welt. Die Mystiker sagen aber, entweder das Universum ist leer, also null, oder es enthält nur eines; die darauf folgende Zwei, die entstehende materielle Welt und die darin existierenden Wesen sind eigentlich nur Illusion.
Dieser von Aristoteles entfachte Streit ist bis heute nicht gelöst worden. Entfacht durch Aristoteles deshalb, weil es vor ihm keine nennenswerte Gegenposition gab, die dem mystischen Ursprungsglauben so wenig Respekt zollte. Wir sagen in zweifacher Weise, dass es für die westliche Welt wichtig war: nach seiner Aufteilung teilte sich die Wissenschaft in Gebiete ein, und seine Art, die Welt allein aus der Beobachtung und dem logischen Denken zu erklären, ist bis heute den Wissenschaftsgeist bildend.
Wechseln wir den Blickwinkel. Unser Leben verläuft zwischen der Welt, die wir in unseren Träumen und Wünschen erfahren und der Welt, die wir die „harte Realität“ nennen. Unsere Träume/Wünsche sind nicht real. Sie sind nicht wirklich, sie entstehen quasi aus dem Nichts, jedoch nicht wirklich aus dem Nichts, weil etwas anderes, dass wir nicht beobachten können, nämlich biochemische Prozesse, Affekte und Emotionen und uns verschlossene Eindrücke sich in Metaphern und Bildern ausdrücken, die wir wiederum erfahren. Wenn ein Beobachter auf das Wogen seiner Emotionen trifft, dann entsteht etwas, was er sehen kann – nämlich sich selbst, verborgen unter Metaphern. In der Wirklichkeit trifft der Mensch jedoch auf ein erkennbar von ihm Verschiedenes, und kann somit seine Grenzen bestimmen. Seine Grenzen sind diejenigen, die sein Geist nicht zu überwinden im Stande ist, denn die Welt, die er erfährt, ist, wie seit Kant im Grunde Konsens, nur ein Bild der Welt, dass mehr von der Struktur der Sinne bestimmt wird als von dem, was da draußen tatsächlich ist. Da er um einen solchen Sachverhalt wissen kann, übersteigt das Vermögen des Geistes das Vermögen der Sinne dahingehend, dass er Wissen sammeln kann, das die Information der Sinnesorgane übersteigt. Wir sagen demnach so: die Grenzen der Realität sind das wirklich Werden der Wünsche oder das Erschöpfen der Fähigkeit des Menschen, an die Wahrhaftigkeit seiner Träume zu glauben. Wenn wir sagen, dass ein Mensch zerbricht, dann meinen wir eigentlich damit, dass seine Fähigkeit, an die Wahrheit seiner Träume zu glauben, erschöpft ist.
Wir alle zerbrechen, und zwar aus folgendem Umstand: weil es wahrscheinlicher ist, angenommen, man würde eine Milliarde Jahre alt, im Lotto zu gewinnen, wenn man nur in hundert Millionen Jahren spielt, als durch eine Wand zu laufen, obwohl man eine Milliarde Jahre nichts anderes tut als gegen Wände zu laufen. Es ist nicht unmöglich…nur verflucht nochmal verdammt unwahrscheinlich. Nun wissen wir nicht im Voraus, welche Träume Lottogewinne sind, und welche Wände. Man könnte fast sagen:
Die Wirklichkeit ist die Erfolgsquote der Traumwelt.
Oder anders formuliert: wir sind zu jedem Zeitpunkt das, was die Vergangenheit von unseren Träumen übrig ließ, oder vielmehr, was wir übrig behalten haben können. Wir erkennen ohne Schwierigkeiten die beiden maßgebenden Faktoren: die Art und Weise unserer Träume sowie unser Potential, trotz allem an ihre Wahrheit zu glauben. Es gibt Träume, die das Potential jedweden Menschen zu übersteigen scheinen. Es gibt Menschen, die unter widrigsten Umständen an ihren Träumen festhalten. Gesetzt dieser Rahmenpunkte ist offensichtlich wenn auch unbequem, dass es nicht an der Realität sondern an uns hängt, inwiefern wir unsere Träume, die in gewisser Form wir selbst sind, verlieren oder eben nicht.
Man kann es so sehen, als dass wir selbst ja schon ein Traum sind, an den geglaubt wurde, weswegen wir existieren und nicht an den Wänden der Realität zerbrochen sind wie andere, die schon vor der Geburt oder kurz nachher ihr Leben wieder verlieren. Dieser Glaube kann, so lange der Mensch noch keine Sprache besitzt und damit kein begriffliches Vorstellungsvermögen, also auch keinen „Glauben an irgend etwas“ besitzt, nur von außen kommen. Ob und wieviel Glaube von außen kommt, hängt nun aber, nehmen wir unsere kleine Theorie für zutreffend, vom Glaubenden ab und nicht von dem Objekt des Glaubens – uns. So findet die Realität in uns Einzug und verbindet die innere mit der äußeren Welt – über den Glauben und die Träume der anderen.
Kommen wir auf Aristoteles zurück, um unsere Problematik abzurunden: der, durch die anderen in ihm geschaffene Bezug zur dinglichen Wirklichkeit war ihm nicht genug und geriet in Konflikt mit seinen eigenen Ansichten. So war er schon zu seiner Zeit an Platos Akademie als Andersdenkender bekannt und wohl auch mit grimmig erwiesenem Respekt geachtet. Und nach Platos Tod, nachdem ein anderer die Leitung der Akademie übernahm und Aristoteles diese verließ, begann er, seine Gedanken zu lehren und aufzuschreiben, und sich aus den Trümmern des alten einen neuen Bezug aufzubauen.
Aus den Trümmern der Träume der anderen zimmern wir unsere eigenen Träume und messen sie an ihrem Erfolg, oder werden von anderen durch deren Träume gemessen. Realität nennen wir die Träume, die dieses Maß überstehen. Unsere eigene Realität ist deswegen zerbrechlich, weil sie mit zweierlei Maß gemessen wird: unserem eignen und dem der anderen, und jedesmal, wenn die Maße nicht übereinstimmen, wird unsere Fähigkeit, an unsere Träume zu glauben, auf die Probe gestellt.
Dass manche Träume zerbrechen müssen, weil ihr Zerbrechen Leben bedeutet, ist ein Umstand, der unseren Sachverhalt zusätzlich kompliziert. Manche Wände müssen eingerannt, und manche Lottogewinne verweigert werden. Letztendlich ist es so, dass doch nur die eigenen Träume gezählt werden, weil alle Träume aus der Null in die Welt treten, und ihre Gestalt, wenn sie in der Welt sind, anders ist, als wenn sie entstehen. Und so werden die in uns gelegten Träume, die eigentlich nicht unsere sind, unsere Kraft zu glauben aufbrauchen.
Seine Träume suchen, sein Maß finden, seine Realität entdecken, die Bedeutungen dieser Floskeln sind alle synonym – es ist der Inbegriff dessen, was es bedeutet, herauszufinden, wer man ist. Und um sich zu entdecken, müssen manche Träume zerbrechen.
*Gemeint ist hier Aristoteles. Thomas von Aquin begann in seinen Werken nur noch vom „Philosophen“ zu sprechen, wenn er Aristoteles meinte.
**
Sogar die ältesten mystischen Schriften wie der Rig-Veda weigern sich, einen Grund dafür zu benennen. Die folgende Stelle ist aus der Übersetzung nach Karl Friedrich Geldner zitiert:
„Woraus diese Schöpfung sich entwickelt hat, ob er sie gemacht hat oder nicht - der der Aufseher dieser Welt im höchsten Himmel ist, der allein weiß es, es sei denn, dass auch er es nicht weiß."
- Rig-Veda 10,129.7
***Aristoteles, Physik, Buch IV, Kapitel XII
Impressum
http://wandersteinsgedanken.blogger.de/stories/1035974/
Crucify, crucify!!!
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Your god's sacrifice!!"
- Blind Guardian, The Script For My Requiem, on Imaginations from the other Side, 1995
Wenn ich ehrlich über mein Leben berichten sollte, so stünde ich vor einem unlösbaren Problem. Denn wie soll ich wissen, ob ich mich letztendlich nicht doch selbst verfälsche? Insofern ist Ehrlichkeit nur indirekt möglich, indem ich bekenne, ein Lügner zu sein. Wenn ich dieses aber bekenne, so das alte philosophische Problem, kann man mir dieses denn glauben? Kann ich mir glauben?
Ein Satz auf dem Papier ist noch kein Meisterstück. Aber eine Antwort zu finden auf eine nicht gestellte Frage – wie soll das angehen? Was ist Existenz, wenn das, was sie umrahmt, bereits vergangen ist und das, was sie im Inneren begrenzt, erst noch geschieht? Gut 2300 Jahre sind vergangen, seit der Philosoph* den Augenblick erfand – wie viele davon mögen bewusst gelebt worden sein, und nicht einfach nur flüchtig zerfallen in das, was war und sein hätte können; wenn zwischen den Grenzen sich nichts befindet denn ein schmaler Grat ohne Substanz? Die Frage, die wir uns stellen müssen, ist: Wer bestimmt, was geschah, nachdem es gewesen ist?
Wir beginnen von vorne, und zwar mit dem Zählen. Vor dem Philosophen und den Philosophen waren die Mystiker, die eben auch mit dem Zählen begannen. Und wie so oft in der Mystik beginnt alles im Nichts, das kein Nichts ist, der Null. Mathematisch lässt sich das beispielsweise so ausdrücken: [-1 + 1 = 0]. Gewiss, es ist nichts, aber da steht dennoch eine Formel, die dieses Nichts ausdrückt. Ähnlich stellen sich die Mystiker nahezu aller Zeiten den Ursprung der Welt vor. Wenn nun diese Formel sich aus welchem Grund auch immer auflöst**, erscheinen ihre Teile, und zwar zunächst eine Eins [-1 + 1 = 0 |+1]. Wir sehen, wenn wir die Formel durchrechnen, dass zwei Einsen erscheinen, nämlich [1=1]. Das heißt nach den Regeln der Mystiker, dass das Universum als eine undividierbare Einheit nur sehr kurz besteht, und sodann in zwei Teile auseinander fällt, nämlich der Zwei. Da wir ab der zwei irgendetwas messen können, ist der folgende Vorgang für die Mystiker weniger interessant als der Anfang, wo nach ihrem Glauben eine absolute Einheit hergestellt ist, die sie wieder zu erlangen versuchen. Soweit die eine Seite. Die andere Seite beginnt in etwa, schätzen wir, grob 30 000 Jahre seit Beginn des Mystizismus, wenn wir bei den Schamanen wandernder Menschensippen beginnen, die 33 000 Jahre vor Christus Rituale in Höhlen zelebrierten, oder Bilder an die Felswände malten.
Betrachten wir nun folgendes Zitat aus dem zehnten Buch der aristotelischen Physik: „Die kleinste Zahl, diesen Begriff allgemein genommen, ist die Zwei.“*** Das hat im Grunde zwei einfache Gründe, oder vielmehr: wir reduzieren es auf zwei einfache Gründe – zum einen braucht da, wo eins ist, nicht gezählt zu werden. Mit einem einzigen lässt sich kein logischer Gedanke formulieren. Damit eine Logik funktioniert, muss das Universum mindestens zwei enthalten. Zum anderen ist alles, was vor der Zwei kommt, keiner Beobachtung zugänglich. Auch Aristoteles setzt die Eins, den so genannten unbewegten Beweger als Ursprung der Welt. Die Mystiker sagen aber, entweder das Universum ist leer, also null, oder es enthält nur eines; die darauf folgende Zwei, die entstehende materielle Welt und die darin existierenden Wesen sind eigentlich nur Illusion.
Dieser von Aristoteles entfachte Streit ist bis heute nicht gelöst worden. Entfacht durch Aristoteles deshalb, weil es vor ihm keine nennenswerte Gegenposition gab, die dem mystischen Ursprungsglauben so wenig Respekt zollte. Wir sagen in zweifacher Weise, dass es für die westliche Welt wichtig war: nach seiner Aufteilung teilte sich die Wissenschaft in Gebiete ein, und seine Art, die Welt allein aus der Beobachtung und dem logischen Denken zu erklären, ist bis heute den Wissenschaftsgeist bildend.
Wechseln wir den Blickwinkel. Unser Leben verläuft zwischen der Welt, die wir in unseren Träumen und Wünschen erfahren und der Welt, die wir die „harte Realität“ nennen. Unsere Träume/Wünsche sind nicht real. Sie sind nicht wirklich, sie entstehen quasi aus dem Nichts, jedoch nicht wirklich aus dem Nichts, weil etwas anderes, dass wir nicht beobachten können, nämlich biochemische Prozesse, Affekte und Emotionen und uns verschlossene Eindrücke sich in Metaphern und Bildern ausdrücken, die wir wiederum erfahren. Wenn ein Beobachter auf das Wogen seiner Emotionen trifft, dann entsteht etwas, was er sehen kann – nämlich sich selbst, verborgen unter Metaphern. In der Wirklichkeit trifft der Mensch jedoch auf ein erkennbar von ihm Verschiedenes, und kann somit seine Grenzen bestimmen. Seine Grenzen sind diejenigen, die sein Geist nicht zu überwinden im Stande ist, denn die Welt, die er erfährt, ist, wie seit Kant im Grunde Konsens, nur ein Bild der Welt, dass mehr von der Struktur der Sinne bestimmt wird als von dem, was da draußen tatsächlich ist. Da er um einen solchen Sachverhalt wissen kann, übersteigt das Vermögen des Geistes das Vermögen der Sinne dahingehend, dass er Wissen sammeln kann, das die Information der Sinnesorgane übersteigt. Wir sagen demnach so: die Grenzen der Realität sind das wirklich Werden der Wünsche oder das Erschöpfen der Fähigkeit des Menschen, an die Wahrhaftigkeit seiner Träume zu glauben. Wenn wir sagen, dass ein Mensch zerbricht, dann meinen wir eigentlich damit, dass seine Fähigkeit, an die Wahrheit seiner Träume zu glauben, erschöpft ist.
Wir alle zerbrechen, und zwar aus folgendem Umstand: weil es wahrscheinlicher ist, angenommen, man würde eine Milliarde Jahre alt, im Lotto zu gewinnen, wenn man nur in hundert Millionen Jahren spielt, als durch eine Wand zu laufen, obwohl man eine Milliarde Jahre nichts anderes tut als gegen Wände zu laufen. Es ist nicht unmöglich…nur verflucht nochmal verdammt unwahrscheinlich. Nun wissen wir nicht im Voraus, welche Träume Lottogewinne sind, und welche Wände. Man könnte fast sagen:
Die Wirklichkeit ist die Erfolgsquote der Traumwelt.
Oder anders formuliert: wir sind zu jedem Zeitpunkt das, was die Vergangenheit von unseren Träumen übrig ließ, oder vielmehr, was wir übrig behalten haben können. Wir erkennen ohne Schwierigkeiten die beiden maßgebenden Faktoren: die Art und Weise unserer Träume sowie unser Potential, trotz allem an ihre Wahrheit zu glauben. Es gibt Träume, die das Potential jedweden Menschen zu übersteigen scheinen. Es gibt Menschen, die unter widrigsten Umständen an ihren Träumen festhalten. Gesetzt dieser Rahmenpunkte ist offensichtlich wenn auch unbequem, dass es nicht an der Realität sondern an uns hängt, inwiefern wir unsere Träume, die in gewisser Form wir selbst sind, verlieren oder eben nicht.
Man kann es so sehen, als dass wir selbst ja schon ein Traum sind, an den geglaubt wurde, weswegen wir existieren und nicht an den Wänden der Realität zerbrochen sind wie andere, die schon vor der Geburt oder kurz nachher ihr Leben wieder verlieren. Dieser Glaube kann, so lange der Mensch noch keine Sprache besitzt und damit kein begriffliches Vorstellungsvermögen, also auch keinen „Glauben an irgend etwas“ besitzt, nur von außen kommen. Ob und wieviel Glaube von außen kommt, hängt nun aber, nehmen wir unsere kleine Theorie für zutreffend, vom Glaubenden ab und nicht von dem Objekt des Glaubens – uns. So findet die Realität in uns Einzug und verbindet die innere mit der äußeren Welt – über den Glauben und die Träume der anderen.
Kommen wir auf Aristoteles zurück, um unsere Problematik abzurunden: der, durch die anderen in ihm geschaffene Bezug zur dinglichen Wirklichkeit war ihm nicht genug und geriet in Konflikt mit seinen eigenen Ansichten. So war er schon zu seiner Zeit an Platos Akademie als Andersdenkender bekannt und wohl auch mit grimmig erwiesenem Respekt geachtet. Und nach Platos Tod, nachdem ein anderer die Leitung der Akademie übernahm und Aristoteles diese verließ, begann er, seine Gedanken zu lehren und aufzuschreiben, und sich aus den Trümmern des alten einen neuen Bezug aufzubauen.
Aus den Trümmern der Träume der anderen zimmern wir unsere eigenen Träume und messen sie an ihrem Erfolg, oder werden von anderen durch deren Träume gemessen. Realität nennen wir die Träume, die dieses Maß überstehen. Unsere eigene Realität ist deswegen zerbrechlich, weil sie mit zweierlei Maß gemessen wird: unserem eignen und dem der anderen, und jedesmal, wenn die Maße nicht übereinstimmen, wird unsere Fähigkeit, an unsere Träume zu glauben, auf die Probe gestellt.
Dass manche Träume zerbrechen müssen, weil ihr Zerbrechen Leben bedeutet, ist ein Umstand, der unseren Sachverhalt zusätzlich kompliziert. Manche Wände müssen eingerannt, und manche Lottogewinne verweigert werden. Letztendlich ist es so, dass doch nur die eigenen Träume gezählt werden, weil alle Träume aus der Null in die Welt treten, und ihre Gestalt, wenn sie in der Welt sind, anders ist, als wenn sie entstehen. Und so werden die in uns gelegten Träume, die eigentlich nicht unsere sind, unsere Kraft zu glauben aufbrauchen.
Seine Träume suchen, sein Maß finden, seine Realität entdecken, die Bedeutungen dieser Floskeln sind alle synonym – es ist der Inbegriff dessen, was es bedeutet, herauszufinden, wer man ist. Und um sich zu entdecken, müssen manche Träume zerbrechen.
*Gemeint ist hier Aristoteles. Thomas von Aquin begann in seinen Werken nur noch vom „Philosophen“ zu sprechen, wenn er Aristoteles meinte.
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Sogar die ältesten mystischen Schriften wie der Rig-Veda weigern sich, einen Grund dafür zu benennen. Die folgende Stelle ist aus der Übersetzung nach Karl Friedrich Geldner zitiert:
„Woraus diese Schöpfung sich entwickelt hat, ob er sie gemacht hat oder nicht - der der Aufseher dieser Welt im höchsten Himmel ist, der allein weiß es, es sei denn, dass auch er es nicht weiß."
- Rig-Veda 10,129.7
***Aristoteles, Physik, Buch IV, Kapitel XII
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http://wandersteinsgedanken.blogger.de/stories/1035974/
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