Dienstag, 4. März 2008
Der Preis des Lebens (4) - Erleuchtung (Teil 1)
wanderstein, 22:52h
Sei nunmehr 100 000 Jahren macht sich der Mensch darüber Gedanken, woher er kommt und wohin er geht, wie diese Welt beschaffen ist und was er darüber wissen kann. Hierbei unterscheidet er zur heutigen Zeit grundsätzlich zwischen zwei Wegen, dem religiösen und dem wissenschaftlichen. Eigentlich müsste sich zu dieser Dichotomie ein dritter hinzu gesellen, und zwar der Weg der Philosophie, der heute für gewöhnlich unter die wissenschaftliche Herangehensweise geordnet wird. Es ist nicht so einfach zu erklären, wieso dies falsch ist, es ist jedoch der Fall. Vielleicht soviel: die alten Philosophen (gemeint sind hier natürlich die Griechen bis Aristoteles) verfuhren zumeist auf folgende Weise:
„Mit Ausnahme der Sophisten [und Sokrates] pflegten die Lehrer in der Regel eine Schule zu gründen, die eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Bruderschaft hatte; man führte mehr oder minder ein Gemeinschaftsleben, hatte häufig eine Art Ordensregel und gewöhnlich auch eine esoterische Lehre, die der Öffentlichkeit vorenthalten wurde. All das war ganz natürlich, wo die jeweilige Philosophie auf den Orphismus zurückging. “*
Der Orphismus ist eine alte mystische Tradition, die sich vermutlich von Jonien aus über Griechenland verbreitete und ihre Wurzeln möglicherweise in Persien/Babylon und Ägypten hat, das von den griechischen Weisen ausgiebig bereist wurde. Für uns ist nur wichtig, dass bis Sokrates die Philosophie auf der Basis der Religion stand. Diese Basis verließ sie im vierten Jahrhundert vor Christus kurzzeitig, damit Aristoteles der Wissenschaft zur Geburt verhelfen konnte, anschließend kehrte sie noch einmal für mehr als tausend Jahre auf ihre alte Position zurück, den Keim vergessend, den der Makedonier in sie gepflanzt hatte, um dann hervorzuschnellen und die Allmacht Gottes über die Menschen durch neue Theorien, Gedanken und Beobachtungen zu brechen. Nun hat sich aus diesem Ansatz eine Weltbetrachtung, ein Blickwinkel entwickelt, den wir wissenschaftlich nennen. Das Problem ist, er ist nicht auch gleichzeitig philosophisch.
Die Philosophie hatte seit jeher den Anspruch, die ganze Welt zu erklären und drang damit auch in Bereiche vor, die nicht nur einer wissenschaftlichen Sprache sondern auch deren Betrachtungsweise unzugänglich sind. Da die meisten Philosophen der neueren Zeit jedoch primär der Wissenschaft verpflichtet waren, entstand die Auffassung, es gäbe über diese Bereiche ohnehin nichts Brauchbares zu denken, zu erfahren oder zu sagen, ja mancherorts wurde ihre Existenz schlechthin in Frage gestellt und abgelehnt, so zum Beispiel der junge Wittgenstein in seinem „Tractatus Logico Philosophicus“, einem kleinen Heftchen, dass aus kaum mehr als 100 Seiten besteht, und in welchem Wittgenstein behauptet, alles zu sagen, worüber wir etwas sagen können, wenn die Gesetze der Logik gelten; Da wir aber keine Gesetze für den Sinn und die Bedeutung aufstellen können, als die Logischen, so Wittgenstein damals, können wir entweder das Logische mit Sicherheit sagen, oder wir können überhaupt nichts sagen, was in irgendeiner Form auf die Welt zutrifft. Dies war der äußerste Rand der Philosophie, und es war nur deswegen noch Philosophie, weil seine eingangs selbst gestellte Frage philosophisch war – was können wir wissen? Seine Antwort war es nicht mehr.
Man könnte ungefähr so sagen: Der Mensch begann, nachdem er Sprache hervorgebracht hatte, als erstes damit, die Welt so zu beschreiben, wie er sie durch sein Empfinden wahrnahm – die Religion. Das tat er mindestens 90 000 Jahre, ohne dass ihm ein anderer Gedanke kam. Vor ungefähr 7000 Jahren begann er damit, Formeln zu entdecken, und Skepsis auf der Basis der Mathematik zu entwickeln, eine präzisere Form der sprachlichen Darlegung zu erfinden und das gefühlte Weltbild durch Beobachtungen abzusichern oder zu korrigieren. Seit etwa 200 Jahren nun hat er das Emotionale Betrachten völlig verworfen und begonnen, seine Beschreibungen nur noch aus der Logik und der Beobachtung zu gewinnen. Das eine ist die Religion, das andere die Wissenschaft – und die etwa 7000 Jahre zwischen ihnen – das ist die Philosophie, wenn man es historisch einteilen will.
Wie kommen wir zu diesen Zeitangaben, die scheinbar allem widersprechen, was heute wissenschaftlich als gültig angesehen wird? So ist einer der ältesten religiösen Texte, die wir besitzen sicherlich der Rig-Veda der Inder, dessen Kodifizierung nach Meinung der westlichen Gelehrten ungefähr um 2500 vor Christus statt fand, und der älteste philosophische Ansatz, den wir in der westlichen Philosophie gelten lassen, der des Thales von Milet ist, der im sechsten Jahrhundert vor Christus in Jonien wirkte, und Orphiker war.
Dass der Mensch schon seit Jahrmillionen in einer gewissen Weise räumlich begreift, wissen wir aus den Funden unzähliger Faustkeile. Um 1,5 Mio Jahre vor Christus gab es schon Konstruktionen, die Perspektivität erforderten, also die Fähigkeit, eine Sache aus verschiedenen Blickwinkeln als dieselbe zu erkennen. Aber wir wissen aus einem anderen Artefaktfund, dass der Mensch erst viel später begann, sich Gedanken darüber zu machen, wer er ist und damit gleichsam, wo er ist. So schreibt D. Roland Müller:
„Irgendwann kam der Mensch dazu, vier Himmelsrichtungen zu unterscheiden. Das Abbild dieser Vorstellung findet sich auf sogenannten Nummuliten: kleinen Scheibchen mit einem Linienkreuz. Die ältesten davon sind etwa 100 000 Jahre alt.“**
Wir müssen uns fragen: Warum macht sich der Mensch eine solche Arbeit, Linien auf eine Steinscheibe zu gravieren? Ginge es um Richtungen, so könnte er sich mit zwei über Kreuz gelegten Stöcken weitaus einfacher behelfen. Aber Stöcke sind irgendwann nicht mehr da. Sie brechen, sie verwittern, man verliert sie. Aber eine derartige Arbeit – auf die wird der Mensch gut achtgeben und vorsichtig sein bei ihrem Gebrauch. Auch wird sie nicht einfach verloren, sondern von der Nachwelt weiter gebraucht, gesetztenfalls sie versteht das Geheimnis ihrer Anwendung. Der Grund ist also in der Besonderheit des Festgehaltenen zu suchen, die auch den Wunsch nach Überlieferung weckte.
Nehmen wir dieses Verhalten als Ausgangspunkt und blicken auf eines der ersten sicheren Ergebnisse 97500 Jahre später, so erkennen wir, dass er sich in dieser Zeitspanne geistig vornehmlich damit beschäftigt hatte, die Welt aus seinem persönlichen Empfinden und den daraus resultierenden Wahrnehmungen und Erfahrungen zu deuten. Das Ergebnis dieser Deutung waren die Götter. Wir wollen das am Beispiel des vedischen Feuergottes Agni näher erläutern. Schauen wir uns folgendes Zitat aus einer der Hymnen des Rig-Veda an, nämlich der 71ten Hymne des ersten Liederkreises, genauer der vierten Strophe:
1.71.4. Als ihn verteilt der Matarisvan aus (dem Holze) rieb und der Rötlichschimmernde in jedem Hause heimisch wurde, da besorgte der Bhrgavana (d.h. Agni) das Botenamt wie der Begleiter für einen mächtigeren König"***
Agni ist der vedische Gott des Elementes Feuer. Er ist das Feuer aller Götter, das Feuer der Sonne (des Gottes Surya), das Feuer der Blitze des Gottes Indra genauso wie das Herdfeuer der Brahmanen. Er ist, wie wir aus zahlreichen anderen Hymnen erfahren, hauptsächlich der Bote, der das Opfer zu den Göttern, die Götter zu dem Opfer und den Brahmanen zu den Göttern führt – er ist der Mittler des Opferrituals. Dieses Zitat enthält eine für damalige Auskünfte ziemlich präzise Zeitangabe, wann Agni zu dem wurde, was er ist – nämlich als er in allen Häusern heimisch wurde. Und er wurde heimisch, als der Mensch begann, sich nieder zu lassen, Häuser zu bauen und Felder zu bestellen, also zwischen 12 000 und 5 000 vor Christus.
Erinnern wir uns, dass der Mensch vor seiner Sesshaft-Werdung als Nomade umher zog. Eine ständig wechselnde Umgebung machten empirische Erkenntnis nur im Bezug auf die gleichbleibenden Faktoren möglich so wie Fährtensuche, Jagd-Taktik, Verhalten von Beute, die Bewegungen der Gestirne usw. Ständig wechselnde Bedingungen, also andere geographische Position, andere Beute, andere Herausforderungen waren eine große Belastung. Dementsprechend wandte der Mensch sich an seine Konstanten und machte sie zu Göttern, also die Rinder, den Himmel, die Sonne, das Feuer, den Wind usw. Warum machte er sie zu Göttern? Weil er eine Erfahrung machte, die die Existenz eines Gottes wahrscheinlich macht, wenn man nicht über andere Erlärungsmodelle verfügt, und im Einzelfall sogar, obwohl man über sie verfügt. Eine Gotteserfahrung muss nicht visuell sein, eines muss sie aber immer sein – emotional. Und man versuchte, diese emotionale Bindung an die Konstanten zu festigen, und zwar mit Hilfe von Ritualen.
Insofern ist ein Ritual schon immer praktikabel und ergebnisorientiert nützlich gewesen, und es stellt sich die Religion als Fortschritt dahin gehend heraus, dass sie das Leben verständlicher, erlebnisreicher und erträglicher machte. Jetzt kann man aber nur durch Praxis erfahren, wogegen oder wozu ein Ritual nützt – so ist es zu erklären, welchen Status die rituelle Praxis einnahm: erstens war es im indirekten Sinne eine Möglichkeit durch Beobachten am Göttlichen teil zu haben, und andererseits war es schlechthin unmöglich, die Nutzlosigkeit von Ritualen im Bezug auf alles Mögliche nachzuweisen, weil die empirische Grundlage fehlte. Wenn eine Jagd erfolgreich war, so hatte das Ritual gewirkt. War sie es nicht, so konnte menschliches Fehlverhalten nicht ausgeschlossen werden, womit nicht nachzuweisen war, ob das Ritual nicht gewirkt hatte. Und letzten Endes konnte es am Schamanen gelegen haben, der nicht im Stande war, eine Verbindung zu den Göttern aufzubauen, wohingegen das Ritual fehlerlos blieb. Ja nur der Schamane war überhaupt in der Lage, Rituale zu verändern, weil jeder andere gar nicht gewusst hätte, was er denn tun solle. So etwas wie das poppersche Falsifikationskriterium**** hätte der Mensch damals gar nicht denken können. Wir sehen, dass notwendige Schwächen dafür sorgten, dass Religion einen ritualistischen Weg einschlug, sie aber im Ursprung experimentelles Ausprobieren gewesen sein muss und in dieser Zeit unglaubliche Erfolge feierte. Es ist der ritualisierten Kontemplation zu verdanken, dass der Mensch auf intellektuellem Niveau Fortschritte machte.
Als er sesshaft wurde, konnte der Mensch ganz andere Beobachtungen machen und sah sich mit anderen Problemen konfrontiert. Es musste gezählt werden und geschrieben, gebaut und gemessen. Zwar lag der geistige Tonus immer noch fast ausschließlich auf der Religion, aber der Mensch begann, Dinge wie die pythagoräische Formel zu entwickeln, die nach heutigem Wissen bereits die Babylonier um 1800 vor Christus kannten. In dieser Zeit begann sich ein geistiger Gegenpol zu entwickeln, heraus aus Entdeckungen, die eigentlich Mittel und Zweck der Religion oder des Profanen gewesen waren. Und aus diesem Grunde verlege ich die Anfänge der Philosophie in die letzte Phase der Sesshaftwerdung, weil zu diesem Zeitpunkt damit begonnen wurde, ein Gegengewicht zur rein emotionalen Erklärung der Welt zu schaffen.
Es hat sich nun nach etwa 100 000 Jahren Gedanken machen über die Welt folgendes erwiesen: um neue Artefakte zu erfinden, Krankheiten zu heilen, Beinbrüche zu schienen, den Menschen zum Mond zu schicken oder unser Umfeld in diesem Sinne produktiv zu beschreiben, hat sich die wissenschaftliche Sprache und deren Blickwinkel als der Beste erwiesen. Um die innere seelisch-emotionale Welt des Einzelnen mit der der anderen zu koordinieren, hat sich die religiöse Sprache als die Beste erwiesen. Die Philosophische Betrachtung, die Anteile an beidem hat, ist geeignet dazu, die Welt so zu beschreiben, dass wir sie für unser alltägliches Miteinander gebrauchen können.
Warum ist das wichtig? Ich habe Sprache in den vorherigen Texten eine Hure genannt, und falls nicht, so möchte ich das hiermit tun: Sprache ist eine Hure – sie macht alles mit jedem, der weiß, wie sie zu nehmen ist. Und weil Sprache eine Hure ist, stellt sie uns allerhand Fallen, die, wenn wir in sie hinein tappen, der Sprache ihren Lohn für ihre Hurerei einbringen. Allein deswegen ist es wichtig zu wissen, dass verschiedene Sprachen nicht nur verschiedene Grammatiken und semantische Bezüge, sondern auch verschiedene Anwendungsgebiete aufweisen. Will heißen – eine religiöse und eine wissenschaftliche Sichtweise berühren sich gar nicht und können sich deswegen auch niemals widersprechen. Sie haben Streitigkeiten nur dann, wenn die eine sich anmaßt, den Acker der anderen zu bestellen. Ein knappes Beispiel: Emotionen sind elektromagnetische und biomechanische Prozesse im Körper, auch wenn sie Teil einer „göttlichen Vision“ sind. Aber es heißt noch nicht, dass, bloß weil wir ein Erklärungsmodell haben, sie nicht dennoch eine göttliche Vision darstellen, die, eben weil der Mensch nur bemerkt, wozu er einen Erkenntnisapparat besitzt, genau denselben Weg in die Wirklichkeit nehmen muss, wie alles andere.
Wenn die Sprache der Religion, die Sprache der Wissenschaft und die Sprache der Philosophie doch alles Huren sind, so ist die Philosophie dennoch die Puffmutter des Trios. Sie bestimmt letzten Endes, was die Zimmer kosten und was ihre Mädchen nehmen müssen, um über die Runden zu kommen. In anderen Worten – der Alltag bestimmt das Leben – Objekte und die Emotionen spielen dem Alltag zu und werden zu Spielsteinen im großen Spiel Leben, dass durch die Dynamik der Beziehungen der Lebenden untereinander bestimmt wird. Aus diesem Grunde beschäftigte sich zum Beispiel Sokrates vor allem mit ethischen Belangen. Denn die Ethik bestimmt die Grenzen der Wissenschaft und die Grenzen der eigenen Persönlichkeitsrechte. Ein jeder darf glauben oder erdenken und erfinden, was er will – aber er darf es niemandem einfach aufzwingen oder verfügbar machen, ohne die Konsequenzen zu bedenken.
Wir hatten in der Geschichte der Menschheit noch keine Zeit, in der dieses Bezugsverhältnis zwischen Philosophie, Wissenschaft und Religion tatsächlich anerkannt gewirkt hätte. Im Grunde ist es ja auch eine Definition, die man unter anderen Gesichtspunkten sicher anders treffen würde. Dennoch ist für unsere Belange nur diese eine und keine andere sinnvoll. Warum, das werde ich im nächsten Beitrag erläutern…
*Bertrand Russell, „Die Philosophie des Abendlandes“, Europa Verlag, Zürich 1950
**http://www.muellerscience.com/FRUEHMENSCH/Modellgebrauch/Modelle.ArchaeologischeSpekulationen.lang.htm (besucht am 05.08.07 um 20:00 Uhr MEZ)
***übersetzt von Karl Friedrich Geldner
****Es besagt, dass eine Theorie nicht allein deswegen richtig sein muss, weil wir keine Ausnahme finden können, denn es könnte irgendwo eine Ausnahme geben. So können wir streng genommen eine Theorie niemals verifizieren, sondern sie solange benutzen, bis wir ihr endlich nachweisen, dass sie falsch ist.
Impressum siehe
http://wandersteinsgedanken.blogger.de/stories/1035974/
„Mit Ausnahme der Sophisten [und Sokrates] pflegten die Lehrer in der Regel eine Schule zu gründen, die eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Bruderschaft hatte; man führte mehr oder minder ein Gemeinschaftsleben, hatte häufig eine Art Ordensregel und gewöhnlich auch eine esoterische Lehre, die der Öffentlichkeit vorenthalten wurde. All das war ganz natürlich, wo die jeweilige Philosophie auf den Orphismus zurückging. “*
Der Orphismus ist eine alte mystische Tradition, die sich vermutlich von Jonien aus über Griechenland verbreitete und ihre Wurzeln möglicherweise in Persien/Babylon und Ägypten hat, das von den griechischen Weisen ausgiebig bereist wurde. Für uns ist nur wichtig, dass bis Sokrates die Philosophie auf der Basis der Religion stand. Diese Basis verließ sie im vierten Jahrhundert vor Christus kurzzeitig, damit Aristoteles der Wissenschaft zur Geburt verhelfen konnte, anschließend kehrte sie noch einmal für mehr als tausend Jahre auf ihre alte Position zurück, den Keim vergessend, den der Makedonier in sie gepflanzt hatte, um dann hervorzuschnellen und die Allmacht Gottes über die Menschen durch neue Theorien, Gedanken und Beobachtungen zu brechen. Nun hat sich aus diesem Ansatz eine Weltbetrachtung, ein Blickwinkel entwickelt, den wir wissenschaftlich nennen. Das Problem ist, er ist nicht auch gleichzeitig philosophisch.
Die Philosophie hatte seit jeher den Anspruch, die ganze Welt zu erklären und drang damit auch in Bereiche vor, die nicht nur einer wissenschaftlichen Sprache sondern auch deren Betrachtungsweise unzugänglich sind. Da die meisten Philosophen der neueren Zeit jedoch primär der Wissenschaft verpflichtet waren, entstand die Auffassung, es gäbe über diese Bereiche ohnehin nichts Brauchbares zu denken, zu erfahren oder zu sagen, ja mancherorts wurde ihre Existenz schlechthin in Frage gestellt und abgelehnt, so zum Beispiel der junge Wittgenstein in seinem „Tractatus Logico Philosophicus“, einem kleinen Heftchen, dass aus kaum mehr als 100 Seiten besteht, und in welchem Wittgenstein behauptet, alles zu sagen, worüber wir etwas sagen können, wenn die Gesetze der Logik gelten; Da wir aber keine Gesetze für den Sinn und die Bedeutung aufstellen können, als die Logischen, so Wittgenstein damals, können wir entweder das Logische mit Sicherheit sagen, oder wir können überhaupt nichts sagen, was in irgendeiner Form auf die Welt zutrifft. Dies war der äußerste Rand der Philosophie, und es war nur deswegen noch Philosophie, weil seine eingangs selbst gestellte Frage philosophisch war – was können wir wissen? Seine Antwort war es nicht mehr.
Man könnte ungefähr so sagen: Der Mensch begann, nachdem er Sprache hervorgebracht hatte, als erstes damit, die Welt so zu beschreiben, wie er sie durch sein Empfinden wahrnahm – die Religion. Das tat er mindestens 90 000 Jahre, ohne dass ihm ein anderer Gedanke kam. Vor ungefähr 7000 Jahren begann er damit, Formeln zu entdecken, und Skepsis auf der Basis der Mathematik zu entwickeln, eine präzisere Form der sprachlichen Darlegung zu erfinden und das gefühlte Weltbild durch Beobachtungen abzusichern oder zu korrigieren. Seit etwa 200 Jahren nun hat er das Emotionale Betrachten völlig verworfen und begonnen, seine Beschreibungen nur noch aus der Logik und der Beobachtung zu gewinnen. Das eine ist die Religion, das andere die Wissenschaft – und die etwa 7000 Jahre zwischen ihnen – das ist die Philosophie, wenn man es historisch einteilen will.
Wie kommen wir zu diesen Zeitangaben, die scheinbar allem widersprechen, was heute wissenschaftlich als gültig angesehen wird? So ist einer der ältesten religiösen Texte, die wir besitzen sicherlich der Rig-Veda der Inder, dessen Kodifizierung nach Meinung der westlichen Gelehrten ungefähr um 2500 vor Christus statt fand, und der älteste philosophische Ansatz, den wir in der westlichen Philosophie gelten lassen, der des Thales von Milet ist, der im sechsten Jahrhundert vor Christus in Jonien wirkte, und Orphiker war.
Dass der Mensch schon seit Jahrmillionen in einer gewissen Weise räumlich begreift, wissen wir aus den Funden unzähliger Faustkeile. Um 1,5 Mio Jahre vor Christus gab es schon Konstruktionen, die Perspektivität erforderten, also die Fähigkeit, eine Sache aus verschiedenen Blickwinkeln als dieselbe zu erkennen. Aber wir wissen aus einem anderen Artefaktfund, dass der Mensch erst viel später begann, sich Gedanken darüber zu machen, wer er ist und damit gleichsam, wo er ist. So schreibt D. Roland Müller:
„Irgendwann kam der Mensch dazu, vier Himmelsrichtungen zu unterscheiden. Das Abbild dieser Vorstellung findet sich auf sogenannten Nummuliten: kleinen Scheibchen mit einem Linienkreuz. Die ältesten davon sind etwa 100 000 Jahre alt.“**
Wir müssen uns fragen: Warum macht sich der Mensch eine solche Arbeit, Linien auf eine Steinscheibe zu gravieren? Ginge es um Richtungen, so könnte er sich mit zwei über Kreuz gelegten Stöcken weitaus einfacher behelfen. Aber Stöcke sind irgendwann nicht mehr da. Sie brechen, sie verwittern, man verliert sie. Aber eine derartige Arbeit – auf die wird der Mensch gut achtgeben und vorsichtig sein bei ihrem Gebrauch. Auch wird sie nicht einfach verloren, sondern von der Nachwelt weiter gebraucht, gesetztenfalls sie versteht das Geheimnis ihrer Anwendung. Der Grund ist also in der Besonderheit des Festgehaltenen zu suchen, die auch den Wunsch nach Überlieferung weckte.
Nehmen wir dieses Verhalten als Ausgangspunkt und blicken auf eines der ersten sicheren Ergebnisse 97500 Jahre später, so erkennen wir, dass er sich in dieser Zeitspanne geistig vornehmlich damit beschäftigt hatte, die Welt aus seinem persönlichen Empfinden und den daraus resultierenden Wahrnehmungen und Erfahrungen zu deuten. Das Ergebnis dieser Deutung waren die Götter. Wir wollen das am Beispiel des vedischen Feuergottes Agni näher erläutern. Schauen wir uns folgendes Zitat aus einer der Hymnen des Rig-Veda an, nämlich der 71ten Hymne des ersten Liederkreises, genauer der vierten Strophe:
1.71.4. Als ihn verteilt der Matarisvan aus (dem Holze) rieb und der Rötlichschimmernde in jedem Hause heimisch wurde, da besorgte der Bhrgavana (d.h. Agni) das Botenamt wie der Begleiter für einen mächtigeren König"***
Agni ist der vedische Gott des Elementes Feuer. Er ist das Feuer aller Götter, das Feuer der Sonne (des Gottes Surya), das Feuer der Blitze des Gottes Indra genauso wie das Herdfeuer der Brahmanen. Er ist, wie wir aus zahlreichen anderen Hymnen erfahren, hauptsächlich der Bote, der das Opfer zu den Göttern, die Götter zu dem Opfer und den Brahmanen zu den Göttern führt – er ist der Mittler des Opferrituals. Dieses Zitat enthält eine für damalige Auskünfte ziemlich präzise Zeitangabe, wann Agni zu dem wurde, was er ist – nämlich als er in allen Häusern heimisch wurde. Und er wurde heimisch, als der Mensch begann, sich nieder zu lassen, Häuser zu bauen und Felder zu bestellen, also zwischen 12 000 und 5 000 vor Christus.
Erinnern wir uns, dass der Mensch vor seiner Sesshaft-Werdung als Nomade umher zog. Eine ständig wechselnde Umgebung machten empirische Erkenntnis nur im Bezug auf die gleichbleibenden Faktoren möglich so wie Fährtensuche, Jagd-Taktik, Verhalten von Beute, die Bewegungen der Gestirne usw. Ständig wechselnde Bedingungen, also andere geographische Position, andere Beute, andere Herausforderungen waren eine große Belastung. Dementsprechend wandte der Mensch sich an seine Konstanten und machte sie zu Göttern, also die Rinder, den Himmel, die Sonne, das Feuer, den Wind usw. Warum machte er sie zu Göttern? Weil er eine Erfahrung machte, die die Existenz eines Gottes wahrscheinlich macht, wenn man nicht über andere Erlärungsmodelle verfügt, und im Einzelfall sogar, obwohl man über sie verfügt. Eine Gotteserfahrung muss nicht visuell sein, eines muss sie aber immer sein – emotional. Und man versuchte, diese emotionale Bindung an die Konstanten zu festigen, und zwar mit Hilfe von Ritualen.
Insofern ist ein Ritual schon immer praktikabel und ergebnisorientiert nützlich gewesen, und es stellt sich die Religion als Fortschritt dahin gehend heraus, dass sie das Leben verständlicher, erlebnisreicher und erträglicher machte. Jetzt kann man aber nur durch Praxis erfahren, wogegen oder wozu ein Ritual nützt – so ist es zu erklären, welchen Status die rituelle Praxis einnahm: erstens war es im indirekten Sinne eine Möglichkeit durch Beobachten am Göttlichen teil zu haben, und andererseits war es schlechthin unmöglich, die Nutzlosigkeit von Ritualen im Bezug auf alles Mögliche nachzuweisen, weil die empirische Grundlage fehlte. Wenn eine Jagd erfolgreich war, so hatte das Ritual gewirkt. War sie es nicht, so konnte menschliches Fehlverhalten nicht ausgeschlossen werden, womit nicht nachzuweisen war, ob das Ritual nicht gewirkt hatte. Und letzten Endes konnte es am Schamanen gelegen haben, der nicht im Stande war, eine Verbindung zu den Göttern aufzubauen, wohingegen das Ritual fehlerlos blieb. Ja nur der Schamane war überhaupt in der Lage, Rituale zu verändern, weil jeder andere gar nicht gewusst hätte, was er denn tun solle. So etwas wie das poppersche Falsifikationskriterium**** hätte der Mensch damals gar nicht denken können. Wir sehen, dass notwendige Schwächen dafür sorgten, dass Religion einen ritualistischen Weg einschlug, sie aber im Ursprung experimentelles Ausprobieren gewesen sein muss und in dieser Zeit unglaubliche Erfolge feierte. Es ist der ritualisierten Kontemplation zu verdanken, dass der Mensch auf intellektuellem Niveau Fortschritte machte.
Als er sesshaft wurde, konnte der Mensch ganz andere Beobachtungen machen und sah sich mit anderen Problemen konfrontiert. Es musste gezählt werden und geschrieben, gebaut und gemessen. Zwar lag der geistige Tonus immer noch fast ausschließlich auf der Religion, aber der Mensch begann, Dinge wie die pythagoräische Formel zu entwickeln, die nach heutigem Wissen bereits die Babylonier um 1800 vor Christus kannten. In dieser Zeit begann sich ein geistiger Gegenpol zu entwickeln, heraus aus Entdeckungen, die eigentlich Mittel und Zweck der Religion oder des Profanen gewesen waren. Und aus diesem Grunde verlege ich die Anfänge der Philosophie in die letzte Phase der Sesshaftwerdung, weil zu diesem Zeitpunkt damit begonnen wurde, ein Gegengewicht zur rein emotionalen Erklärung der Welt zu schaffen.
Es hat sich nun nach etwa 100 000 Jahren Gedanken machen über die Welt folgendes erwiesen: um neue Artefakte zu erfinden, Krankheiten zu heilen, Beinbrüche zu schienen, den Menschen zum Mond zu schicken oder unser Umfeld in diesem Sinne produktiv zu beschreiben, hat sich die wissenschaftliche Sprache und deren Blickwinkel als der Beste erwiesen. Um die innere seelisch-emotionale Welt des Einzelnen mit der der anderen zu koordinieren, hat sich die religiöse Sprache als die Beste erwiesen. Die Philosophische Betrachtung, die Anteile an beidem hat, ist geeignet dazu, die Welt so zu beschreiben, dass wir sie für unser alltägliches Miteinander gebrauchen können.
Warum ist das wichtig? Ich habe Sprache in den vorherigen Texten eine Hure genannt, und falls nicht, so möchte ich das hiermit tun: Sprache ist eine Hure – sie macht alles mit jedem, der weiß, wie sie zu nehmen ist. Und weil Sprache eine Hure ist, stellt sie uns allerhand Fallen, die, wenn wir in sie hinein tappen, der Sprache ihren Lohn für ihre Hurerei einbringen. Allein deswegen ist es wichtig zu wissen, dass verschiedene Sprachen nicht nur verschiedene Grammatiken und semantische Bezüge, sondern auch verschiedene Anwendungsgebiete aufweisen. Will heißen – eine religiöse und eine wissenschaftliche Sichtweise berühren sich gar nicht und können sich deswegen auch niemals widersprechen. Sie haben Streitigkeiten nur dann, wenn die eine sich anmaßt, den Acker der anderen zu bestellen. Ein knappes Beispiel: Emotionen sind elektromagnetische und biomechanische Prozesse im Körper, auch wenn sie Teil einer „göttlichen Vision“ sind. Aber es heißt noch nicht, dass, bloß weil wir ein Erklärungsmodell haben, sie nicht dennoch eine göttliche Vision darstellen, die, eben weil der Mensch nur bemerkt, wozu er einen Erkenntnisapparat besitzt, genau denselben Weg in die Wirklichkeit nehmen muss, wie alles andere.
Wenn die Sprache der Religion, die Sprache der Wissenschaft und die Sprache der Philosophie doch alles Huren sind, so ist die Philosophie dennoch die Puffmutter des Trios. Sie bestimmt letzten Endes, was die Zimmer kosten und was ihre Mädchen nehmen müssen, um über die Runden zu kommen. In anderen Worten – der Alltag bestimmt das Leben – Objekte und die Emotionen spielen dem Alltag zu und werden zu Spielsteinen im großen Spiel Leben, dass durch die Dynamik der Beziehungen der Lebenden untereinander bestimmt wird. Aus diesem Grunde beschäftigte sich zum Beispiel Sokrates vor allem mit ethischen Belangen. Denn die Ethik bestimmt die Grenzen der Wissenschaft und die Grenzen der eigenen Persönlichkeitsrechte. Ein jeder darf glauben oder erdenken und erfinden, was er will – aber er darf es niemandem einfach aufzwingen oder verfügbar machen, ohne die Konsequenzen zu bedenken.
Wir hatten in der Geschichte der Menschheit noch keine Zeit, in der dieses Bezugsverhältnis zwischen Philosophie, Wissenschaft und Religion tatsächlich anerkannt gewirkt hätte. Im Grunde ist es ja auch eine Definition, die man unter anderen Gesichtspunkten sicher anders treffen würde. Dennoch ist für unsere Belange nur diese eine und keine andere sinnvoll. Warum, das werde ich im nächsten Beitrag erläutern…
*Bertrand Russell, „Die Philosophie des Abendlandes“, Europa Verlag, Zürich 1950
**http://www.muellerscience.com/FRUEHMENSCH/Modellgebrauch/Modelle.ArchaeologischeSpekulationen.lang.htm (besucht am 05.08.07 um 20:00 Uhr MEZ)
***übersetzt von Karl Friedrich Geldner
****Es besagt, dass eine Theorie nicht allein deswegen richtig sein muss, weil wir keine Ausnahme finden können, denn es könnte irgendwo eine Ausnahme geben. So können wir streng genommen eine Theorie niemals verifizieren, sondern sie solange benutzen, bis wir ihr endlich nachweisen, dass sie falsch ist.
Impressum siehe
http://wandersteinsgedanken.blogger.de/stories/1035974/
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